VII. Buch, Erstes Kapitel
Der Fruehling war in seiner voelligen Herrlichkeit erschienen; ein fruehzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging stuermisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. "Ach!" sagte er zu sich selbst, "erscheinen uns denn eben die schoensten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? Und muessen Tropfen fallen, wenn wir entzueckt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn ungeruehrt ansehen, und was kann uns ruehren als die stille Hoffnung, dass die angeborne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns ruehrt die Erzaehlung jeder guten Tat, uns ruehrt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir fuehlen dabei, dass wir nicht ganz in der Fremde sind, wir waehnen einer Heimat naeher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt."
Inzwischen hatte ihn ein Fussgaenger eingeholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und nach einigen gleichgueltigen Reden zu dem Reiter sagte: "Wenn ich mich nicht irre, so muss ich Sie irgendwo schon gesehen haben."
"Ich erinnere mich Ihrer auch", versetzte Wilhelm; "haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht?"—"Ganz recht!" erwiderte der andere.
Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: "Ich weiss nicht, was fuer eine Veraenderung mit Ihnen vorgegangen sein mag; damals hielt ich Sie fuer einen lutherischen Landgeistlichen, und jetzt sehen Sie mir eher einem katholischen aehnlich."
"Heute betriegen Sie sich wenigstens nicht", sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen liess. "Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?"
"Laenger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zurueckdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon uebriggeblieben."
"Darin irren Sie sich; alles, was uns begegnet, laesst Spuren zurueck, alles traegt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch es ist gefaehrlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden dabei entweder stolz und laessig oder niedergeschlagen und kleinmuetig, und eins ist fuer die Folge so hinderlich als das andere. Das Sicherste bleibt immer, nur das Naechste zu tun, was vor uns liegt, und das ist jetzt", fuhr er mit einem Laecheln fort, "dass wir eilen, ins Quartier zu kommen."
Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der andere versetzte, dass es hinter dem Berge liege. "Vielleicht treffe ich Sie dort an", fuhr er fort, "ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu besorgen. Leben Sie solange wohl!" Und mit diesen Worten ging er einen steilen Pfad, der schneller ueber den Berg hinueberzufuehren schien.
"Ja wohl hat er recht!" sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. "An das Naechste soll man denken, und fuer mich ist wohl jetzt nichts Naeheres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Lass sehen, ob ich die Rede noch ganz im Gedaechtnis habe, die den grausamen Freund beschaemen soll."
Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Gedaechtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenwaertig.
"Geist meiner Freundin!" rief er aus, "umschwebe mich! und wenn es dir moeglich ist, so gib mir ein Zeichen, dass du besaenftigt, dass du versoehnt seist!"
Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Hoehe des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Gebaeude liegen, das er sogleich fuer Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelmaessiges Schloss mit einigen Tuermen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelmaessiger waren die neuen Angebaeude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebaeude durch Galerien und bedeckte Gaenge zusammenhingen. Alle aeussere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Beduerfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von kuenstlichen Gaerten und grossen Alleen. Ein Gemueseund Baumgarten drang bis an die Haeuser hinan, und kleine nutzbare Gaerten waren selbst in den Zwischenraeumen angelegt. Ein heiteres Doerfchen lag in einiger Entfernung; Gaerten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.
In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel ueber das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.
Ein alter Bedienter empfing ihn an der Tuere und berichtete ihm mit vieler Gutmuetigkeit, dass er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Geschaeftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich musste der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zurueck und fuehrte Wilhelmen in einen grossen, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen hoerte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit Wuerde zu empfangen, ihm erst den Brief zu ueberreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.
Mehrmals war er schon getaeuscht worden und fing wirklich an, verdriesslich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitentuer ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten ueberrocke heraustrat. "Was bringen Sie mir Gutes?" sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, "verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen."
Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, ueberreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: "Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne Ruehrung lesen werden."
Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zurueck, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne Tuere sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und ueberschrieb, dann Aureliens Brief eroeffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gefuehl nach die pathetische Rede zu dem natuerlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetentuere des Kabinetts sich oeffnete und der Geistliche hereintrat.
"Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt", rief Lothario ihm entgegen; "verzeihn Sie mir", fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, "wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen fuer unsern Gast, Abbe, dass ihm nichts abgeht."
Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.
Stillschweigend gingen sie durch wunderliche Gaenge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche fuehrte ihn ein und verliess ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ankuendigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu fruehstuecken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergnuegen pflegte, manches erzaehlte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.
So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er wuenschte allein zu sein, denn er fuehlte sich in seiner Lage aeusserst gedrueckt und beklommen. Er machte sich Vorwuerfe, seinen Vorsatz so schlecht vollfuehrt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Versaeumte nachzuholen, bald ward er gewahr, dass Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gefuehlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wusste sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und oeffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. ""Flieh! Juengling, flieh!"" rief er aus, "was soll das mystische Wort heissen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser haette der Geist mir zugerufen: "Kehre in dich selbst zurueck!"" Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichgueltig sah er ueber die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein ungluecklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen schoenen Toechtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien aehnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er fuehlte ein unwiderstehliches Beduerfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Traenen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf ueberwaeltigte.
Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe oefters besucht hatte, und sah mit Vergnuegen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Missverhaeltnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hiess er den Sohn zwei Stuehle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und fuehrte sie nach einer Laube.
Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina sass unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und zaehlte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem Ruecken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte ueber den Kindern in die Haende, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er aengstlich, als der Harfenspieler mit grossen, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu spaet, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die schoene Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen naeher gekommen, das Kind brannte ueber und ueber, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weissen Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich geloescht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen Baeumen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner schoenen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit grossem Gelaechter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu Huelfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zurueck. Wie gern liess er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.