Erstes Kapitel

Die erste Jugend des Agathons

"Ich war schon achtzehn Jahre alt, eh ich denjenigen kannte, dem ich mein Dasein zu danken habe. Von der ersten Kindheit an, in den Hallen des delphischen Tempels erzogen, war ich gewoehnt, die Priester des Apollo mit diesen kindlichen Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter ueber alle, die fuer unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergiessen pflegt. Ich war noch ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten Gewand, welches die jungen Diener des Gottes von den Sklaven der Priester unterschied, bekleidet, und zum Dienst des Tempels, wozu ich gewidmet war, zubereitet wurde.

Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, dass ein Knabe von gefuehlvoller Art, der beinahe von der Wiegen an daselbst erzogen worden, unvermerkt eine Gemuetsbildung bekommen muss, welche ihn von den gewoehnlichen Menschen unterscheidet. Ausser der besondern Heiligkeit, welche ein uraltes Vorurteil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen Gottes der ganzen delphischen Landschaft beigelegt hat, war in den Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend einem ehrwuerdigen oder glaenzenden Gegenstand erfuellt, oder durch das Andenken irgend eines Wunders verherrlichet war. Wie nun der Anblick so vieler wundervoller Dinge das erste war, woran meine Augen gewoehnt wurden: So war die Erzaehlung wunderbarer Begebenheiten die erste muendliche Unterweisung, die ich von meinen Vorgesetzten erhielt; eine Art von Unterricht, den ich noetig hatte, weil es ein Teil meines Berufs sein sollte, den Fremden, von welchen der Tempel immer angefuellt war, die Gemaelde, die Schnitzwerke und Bilder, und den unsaeglichen Reichtum von Geschenken, wovon die Hallen und Gewoelbe desselben schimmerten, zu erklaeren.

Fuer ungewohnte Augen ist vielleicht nichts blendenders als der Anblick eines von so vielen Koenigen, Staedten und reichen Partikularen in ganzen Jahrhunderten zusammengehaeuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen, Perlen, Elfenbein und andern Kostbarkeiten: Fuer mich, der dieses Anblicks gewohnt war, hatte die bescheidne Bildsaeule eines Solon mehr Reiz, als alle diese schimmernde Trophaeen einer aberglaeubischen Andacht, welche ich gar bald mit eben der verachtenden Gleichgueltigkeit ansahe, womit ein Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt. Noch unfaehig, von den Verdiensten und dem wahren Wert der vergoetterten Helden mir einen echten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und fuehlte, indem ich sie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen ihrer Groesse und mit einer Bewundrung erfuellt, wovon ich keine andre Ursache als mein innres Gefuehl haette angeben koennen. Einen noch staerkern Eindruck machte auf mich die grosse Menge von Bildern der verschiednen Gottheiten, unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kraefte der Natur, die manchfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes und die Tugenden des geselligen Lebens personifiziert haben, und wovon ich im Tempel und in den Hainen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine damalige Erfahrung, schoene Danae, hat mich seitdem oftmals auf die Betrachtung geleitet, wie gross der Beitrag sei, welchen die schoenen Kuenste zu Bildung des sittlichen Menschen tun koennen; und wie weislich die Priester der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren Lieblinge ihnen so grosse Dienste getan, selbst unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vorteil der Religion, in so fern sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheinet von der Staerke der Eindruecke abzuhaengen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worin wir noch unfaehig sind, Untersuchungen anzustellen. Wuerden unsre Seelen in Absicht der Goetter und ihres Dienstes von der Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern und verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder-Geschichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die abbildenden Kuenste von den uebernatuerlichen Gegenstaenden bekommen, allein mit den unverfaelschten Eindruecken der Natur und den Grundsaetzen der Vernunft ueberschrieben; so ist sehr zu vermuten, dass der Aberglaube noch groessere Muehe haben wuerde, die Vernunft—als, in dem Falle, worin die meisten sich befinden, die Vernunft Muehe hat, den Aberglauben von der einmal eingenommenen Herrschaft zu verdraengen. Der groesste Vorteil, den dieser ueber jene hat, hanget davon ab, dass er ihr zuvorkommt. Aber wie leicht wird es ihm alsdenn sich einer noch unmuendigen Seele zu bemeistern, wenn alle diese zauberische Kuenste, welche die Natur im Nachahmen selbst zu uebertreffen scheinen, ihre Kraefte vereinigen, die entzueckten Sinnen zu ueberraschen? Wie natuerlich muss es demjenigen werden die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden, dass er ihre Gegenwart und Einfluesse fuehle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankuendet? Demjenigen, der gewohnt ist den Apollo eines Phidias vor sich zu sehen, und das mehr als menschliche, welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des Gegenstands, nicht dem schoepferischen Geiste des Kuenstlers zuzuschreiben?

So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, deucht mich, dass sich in einer jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach ein gewisses idealisches Schoene bilde, welches (auch ohne dass man sich’s bewusst ist) unsern Geschmack und unsre sittliche Urteile bestimmt, und das Modell abgibt, wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen was wir gross, schoen und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint. Dieses idealische Modell formiert sich (wie mich itzo wenigstens deucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Betrachtungen geleitet haben) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhang der Gegenstaende, worin wir zu leben anfangen.

Daher (wie die Erfahrung zu bestaetigen scheint) so viele besondere Denk—und Sinnesarten als man verschiedene Erziehungen und Staende in der menschlichen Gesellschaft antrifft. Daher der Spartanische Heldenmut, die Attische Urbanitaet, und der aufgedunsene Stolz der Asiaten; daher die Verachtung des Geometers fuer den Dichter, oder des spekulierenden Kaufmanns gegen die Spekulationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar scheinen, weil sie sich in keine Darici verwandeln wie die seinigen; daher der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestuem des Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten, und die einfaeltige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schoene Danae, die Schwaermerei, welche der weise Hippias deinem Callias vorwirft; diese Schwaermerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht sehe, seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich nichts desto weniger fuer diejenige Gemuetsbeschaffenheit halte, welche uns, unter den noetigen Einschraenkungen, gluecklicher als irgend eine andre machen kann.

Du begreifest leicht, schoene Danae, dass unter lauter Gegenstaenden, welche ueber die gewoehnliche Natur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes phantastische Modell, dessen ich vorhin erwaehnte, in einem so ungewoehnlichen Grade abgezogen und ueberirdisch werden musste, dass bei zunehmendem Alter alles was ich wuerklich sah, weit unter demjenigen war, was sich meine Einbildungskraft zu sehen wuenschte. In dieser Gemuetsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi aus Absichten, welche sich erst in der Folg’ entwickelten, es uebernahm, mich in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen, die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst auf ihre Partei zu ziehen, und den Glauben von dessen unbeweglichem Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund als die Tradition und die Fabeln der Dichter, zu geben schien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzueckung, in die ich hingezogen wurde, als ich in den Haenden dieses Egyptiers, der die geheime Goetterlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geister eingefuehrt, und zu einer Zeit, da die erhabensten Gemaelde Homers und Pindars ihren Reiz fuer mich verloren hatten, mitten in der materiellen Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schoenheiten erfuellt, und von lauter Goettern bewohnt, eroeffnet wurde.

Das Alter, worin ich damals war, ist dasjenige, worin wir, aus dem langen Traum der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohn unser Zutun versetzt sehen, kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Fluechtigkeit, welche der Jugend eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Raetsel erklaert, alle Aufgaben aufloeset; eine Philosophie, welche destomehr mit dem warmen und gefuehlvollen Herzen der Jugend sympathisiert, weil sie alles Unempfindliche und Tote aus der Natur verbannet, und jeden Atom der Schoepfung mit lebenden und geistigen Wesen bevoelkert, jeden Punkt der Zeit mit verborgnen Begebenheiten und grossen Szenen befruchtet, welche fuer kuenftige Ewigkeiten heranreifen; ein System, welches die Schoepfung so unermesslich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine majestaetische Symmetrie, in der Regierung der moralischen Welt einen unveraenderlichen Plan, in der unzaehlbaren Menge von Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in unsrer Seele einen kuenftigen Gott, in der Zerstoerung unsers Koerpers die Wiedereinsetzung in unsre urspruengliche Vollkommenheit, und in dem nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne zeigt? Ein solches System ist zu schoen an sich selbst, zu schmeichelhaft fuer unsern Stolz, unsern innersten Wuenschen und wesentlichsten Trieben zu angemessen, als dass wir es in einem Alter, wo alles Grosse und Ruehrende so viel Macht ueber uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten. Vermutungen und Wuensche werden hier zu desto staerkern Beweisen, da wir in dem blossen Anschauen der Natur zuviel Majestaet, zuviel Geheimnisreiches und Goettliches zu sehen glauben, um besorgen zu koennen, dass wir jemals zugross von ihr denken moechten. Und, soll ich dirs gestehen, schoene Danae? Selbst itzt, da mich glueckliche Erfahrungen das Schwaermende und Unzuverlaessige dieser Art von Philosophie gelehrt haben, fuehle ich mit einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empoert, dass diese uebereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, welche ihr das Wort redet, der rechte Stempel der Wahrheit ist, und dass selbst in diesen Traeumen, welche dem materialischen Menschen so ausschweifend scheinen, fuer unsern Geist mehr Wuerklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere Quelle von ruhiger Freude und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten haben. Doch ich erinnere mich, dass es die Geschichte meiner Seele, und nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart ist, wozu ich mich anheischig gemacht habe. Es sei also genug, wenn ich sage, dass die Lehrsaetze des Orpheus und des Pythagoras, von den Goettern, von der Natur, von unsrer Seele, von der Tugend, und von dem was das hoechste Gut des Menschen ist, sich meines Gemuets so gaenzlich bemeisterten, dass alle meine Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein ganzes Betragen, so wie alle meine Entwuerfe fuer die Zukunft, mit dem Plan eines nach diesen Grundsaetzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich unaufhoerlich in mir selbst beschaeftigte, uebereinstimmig waren."