Am 4. Mai 1771
Wie froh bin ich, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiss, du verzeihst mir’s. Waren nicht meine uebrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meine zu aengstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich dafuer, dass, waehrend die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch—bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht ihre Empfindungen genaehrt? Hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdruecken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig laecherlich sie waren, selbst ergetzt? Hab’ ich nicht—o was ist der Mensch, dass er ueber sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen UEbel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkaeuen, wie ich’s immer getan habe; ich will das Gegenwaertige geniessen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiss, du hast recht, Bester, der Schmerzen waeren minder unter den Menschen, wenn sie nicht—Gott weiss, warum sie so gemacht sind!—mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschaeftigten, die Erinnerungen des vergangenen UEbels zurueckzurufen, eher als eine gleichgueltige Gegenwart zu ertragen.
Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, dass ich ihr Geschaeft bestens betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine Tante gesprochen und bei weitem das boese Weib nicht gefunden, das man bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem besten Herzen. Ich erklaerte ihr meiner Mutter Beschwerden ueber den zurueckgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gruende, Ursachen und die Bedingungen, unter welchen sie bereit waere, alles herauszugeben, und mehr als wir verlangten—kurz, ich mag jetzt nichts davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschaeft gefunden, dass Missverstaendnisse und Traegheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren gewiss seltener.
UEbrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen koestlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend waermt mit aller Fuelle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauss von Blueten, und man moechte zum Maienkaefer werden, um in dem Meer von Wohlgeruechen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu koennen.
Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schoenheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M., einen Garten auf einem der Huegel anzulegen, die mit der schoensten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Taeler bilden. Der Garten ist einfach, und man fuehlt gleich bei dem Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gaertner, sondern ein fuehlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier geniessen wollte. Schon manche Traene hab’ ich dem Abgeschiedenen in dem verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplaetzchen war und auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gaertner ist mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht uebel dabei befinden.