Buch Der Lieder

Heine, Heinrich, 1797-1856

Vorrede zur dritten Auflage

Das ist der alte Maehrchenwald! Es duftet die Lindenbluete! Der wunderbare Mondenglanz Bezaubert mein Gemuete.

Ich ging fuerbass, und wie ich ging, Erklang es in der Hoehe. Das ist die Nachtigall, sie singt Von Lieb’ und Liebeswehe.

Sie singt von Lieb’ und Liebesweh, Von Traenen und von Lachen, Sie jubelt so traurig, sie schluchzet so froh, vergessene Traeume erwachen. —

Ich ging fuerbass, und wie ich ging, Da sah ich vor mir liegen, Auf freiem Platz, ein grosses Schloss, Die Giebel hoch aufstiegen.

Verschlossene Fenster, ueberall Ein Schweigen und ein Trauern; Es schien als wohne der stille Tod In diesen oeden Mauern.

Dort vor dem Tor lag eine Sphinx, Ein Zwitter von Schrecken und Luesten, Der Leib und die Tatzen wie ein Loew, Ein Weib an Haupt und Bruesten.

Ein schoenes Weib! Der weisse Blick, Er sprach von wildem Begehren. Die stummen Lippen woelbten sich Und laechelten stilles Gewaehren.

Die Nachtigall, sie sang so suess — Ich konnt nicht widerstehen — Und als ich kuesste das holde Gesicht, Da war’s um mich geschehen.

Lebendig ward das Marmorbild, Der Stein begann zu aechzen — Sie trank meiner Kuesse lodernde Glut, Mit Duersten und mit Lechzen.

Sie trank mir fast den Odem aus — Und endlich, wollustheischend, Umschlang sie mich, meinen armen Leib Mit den Loewentatzen zerfleischend.

Entzueckende Marter und wonniges Weh! Der Schmerz wie die Lust unermesslich! Derweilen des Mundes Kuss mich beglueckt, Verwunden die Tatzen mich graesslich.

Die Nachtigall sang: "O schoene Sphinx! O Liebe! was soll es bedeuten, Dass du vermischest mit Todesqual All deine Seligkeiten?

"O schoene Sphinx! O loese mir Das Raetsel, das wunderbare! Ich hab’ darueber nachgedacht Schon manche tausend Jahre."

Das haette ich alles sehr gut in guter Prosa sagen koennen ... Wenn man aber die alten Gedichte wieder durchliest, um ihnen, behufs eines erneuerten Abdrucks, einige Nachfeile zu erteilen, dann ueberschleicht einen unversehens die klingelnde Gewohnheit des Reims und Silbenfans, und siehe! es sind Verse womit ich diese dritte Auflage des Buchs der Lieder eroeffne. O Phoebus Apollo! sind diese Verse schlecht, so wirst du mir gern verzeihen ... Denn du bist ein allwissender Gott, und du weisst sehr gut, warum ich mich seit so vielen Jahren nicht mehr vorzugsweise mit Mass und Gleichklang der Woerter beschaeftigen konnte ... Du weisst warum die Flamme, die einst in brillanten Feuerwerkspielen die Welt ergoetzte, ploetzlich zu weit ernsteren Braenden verwendet werden musste ... Du weisst warum sie jetzt in schweigender Glut mein Herz verzehrt ... Du verstehst mich, grosser schoener Gott, der du ebenfalls die goldene Leier zuweilen vertauschtest mit dem starken Bogen und den toedlichen Pfeilen ... Erinnerst du dich auch noch des Marsyas, den du lebendig geschunden? Es ist schon lange her, und ein aehnliches Beispiel taet wieder Not ... Du laechelst, o mein ewiger Vater! Geschrieben zu Paris den 20. Februar 1839. Heinrich Heine.