Die Geschwister

Goethe, Johann Wolfgang von, 1749-1832

Die Geschwister (1776) Ein Schauspiel in einem Akt Johann Wolfgang Goethe

Personen: Wilhelm, ein Kaufmann Marianne, seine Schwester Fabrice Brieftraeger

WILHELM (an einem Pult mit Handelsbuechern und Papieren). Diese Woche wieder zwei neue Kunden! Wenn man sich ruehrt, gibt’s doch immer etwas; sollt’ es auch nur wenig sein, am Ende summiert sich’s doch, und wer klein Spiel spielt, hat immer Freude, auch am kleinen Gewinn, und der kleine Verlust ist zu verschmerzen. Was gibt’s?

(Brieftraeger kommt.)

BRIEFTRAEGER. Einen beschwerten Brief, zwanzig Dukaten, franko halb.

WILHELM. Gut! sehr gut! Notier Er mir’s zum uebrigen.

(Brieftraeger ab.)

WILHELM (den Brief ansehend). Ich wollte mir heute den ganzen Tag nicht sagen, dass ich sie erwartete. Nun kann ich Fabricen gerade bezahlen und missbrauche seine Gutheit nicht weiter. Gestern sagte er mir: Morgen komm’ ich zu dir! Es war mir nicht recht. Ich wusste, dass er mich nicht mahnen wuerde, und so mahnt mich seine Gegenwart just doppelt. (Indem der die Schatulle aufmacht und zaehlt). In vorigen Zeiten, wo ich ein bisschen bunter wirtschaftete, konnt’ ich die stillen Glaeubiger am wenigsten leiden. Gegen einen, der mich ueberlaeuft, belagert, gegen den gilt Unverschaemtheit und alles, was dran haengt; der andere, der schweigt, geht gerade ans Herz und fordert am dringendsten, da er mir sein Anliegen ueberlaesst. (Er legt Geld zusammen auf den Tisch.) Lieber Gott, wie dank’ ich dir, dass ich aus der Wirtschaft heraus und wieder geborgen bin! (Er hebt ein Buch auf.) Deinen Segen im kleinen! mir, der ich deine Gaben im grossen verschleuderte.—Und so—Kann ich’s ausdruecken?—Doch du tust nichts fuer mich, wie ich nichts fuer mich tue. Wenn das holde liebe Geschoepf nicht waere, saess’ ich hier und verglich’ Brueche?—O Marianne! wenn du wuesstest, dass der, den du fuer deinen Bruder haeltst, dass der mit ganz anderm Herzen, ganz andern Hoffnungen fuer dich arbeitet!—Vielleicht! —ach!—es ist doch bitter—Sie liebt mich—ja, als Bruder—Nein, pfui! das ist wieder Unglaube, und der hat nie was Gutes gestiftet. —Marianne! ich werde gluecklich sein, du wirst’s sein, Marianne!

(Marianne kommt.)

MARIANNE. Was willst du, Bruder? Du riefst mich.

WILHELM. Ich nicht, Marianne.

MARIANNE. Stiert dich der Mutwille, dass du mich aus der Kueche hereinvexierst?

WILHELM. Du siehst Geister.

MARIANNE. Sonst wohl. Nur deine Stimme kenn’ ich zu gut, Wilhelm!

WILHELM. Nun, was machst du draussen?

MARIANNE. Ich habe nur ein paar Tauben gerupft, weil doch wohl Fabrice heut abend mitessen wird.

WILHELM. Vielleicht.

MARIANNE. Sie sind bald fertig, du darfst es nachher nur sagen. Er muss mich auch sein neues Liedchen lehren.

WILHELM. Du lernst wohl gern was von ihm?

MARIANNE. Liedchen kann er recht huebsch. Und wenn du hernach bei Tische sitzest und den Kopf haengst, da fang’ ich gleich an. Denn ich weiss doch, dass du lachst, wenn ich ein Liedchen anfange, das dir lieb ist.

WILHELM. Hast du mir’s abgemerkt?

MARIANNE. Ja, wer euch Mannsleuten auch nichts abmerkte!—Wenn du sonst nichts hast, so geh’ ich wieder; denn ich habe noch allerlei zu tun. Adieu.—Nun gib mir noch einen Kuss.

WILHELM. Wenn die Tauben gut gebraten sind, sollst du einen zum Nachtisch haben.

MARIANNE. Es ist doch verwuenscht, was die Brueder grob sind! Wenn Fabrice oder sonst ein guter Junge einen Kuss nehmen duerfte, die spraengen waendehoch, und der Herr da verschmaeht einen, den ich geben will.—Jetzt verbrenn’ ich die Tauben. (Ab.)

WILHELM. Engel! lieber Engel! dass ich mich halte, dass ich ihr nicht um den Hals falle, ihr alles entdecke!—Siehst du denn auf uns herunter, heilige Frau, die du mir diesen Schatz aufzuheben gabst?—Ja, sie wissen von uns droben! sie wissen von uns!—Charlotte, du konntest meine Liebe zu dir nicht herrlicher, heiliger belohnen, als dass du mir scheidend deine Tochter anvertrautest! Du gabst mir alles, was ich bedurfte, knuepftest mich ans Leben! Ich liebte sie als dein Kind—und nun!—Noch ist mir’s Taeuschung. Ich glaube dich wiederzusehen, glaube, dass mir das Schicksal verjuengt dich wiedergegeben hat, dass ich nun mit dir vereinigt bleiben und wohnen kann, wie ich’s in jenem ersten Traum des Lebens nicht konnte! nicht sollte!—Gluecklich! gluecklich! All deinen Segen, Vater im Himmel!

(Fabrice kommt.)

FABRICE. Guten Abend.

WILHELM. Lieber Fabrice, ich bin gar gluecklich; es ist alles Gute ueber mich gekommen diesen Abend. Nun, nichts von Geschaeften! Da liegen deine dreihundert Taler! Frisch in die Tasche! Meinen Schein gibst du mir gelegentlich wieder. Und lass uns eins plaudern!

FABRICE. Wenn du sie weiter brauchst—

WILHELM. Wenn ich sie wieder brauche, gut! Ich bin dir immer dankbar, nur jetzt nimm sie zu dir.—Hoere, Charlottens Andenken ist diesen Abend wieder unendlich neu und lebendig vor mir geworden.

FABRICE. Das tut’s wohl oefters.

WILHELM. Du haettest sie kennen sollen! Ich sage dir, es war eins der herrlichsten Geschoepfe.

FABRICE. Sie war Witwe, wie du sie kennenlerntest?

WILHELM. So rein und gross! Da las ich gestern noch einen ihrer Briefe. Du bist der einzige Mensch, der je was davon gesehen hat. (Er geht nach der Schatulle.)

FABRICE (fuer sich). Wenn er mich nur jetzt verschonte! Ich habe die Geschichte schon so oft gehoert! Ich hoere ihm sonst auch gern zu, denn es geht ihm immer vom Herzen; nur heute hab’ ich ganz andere Sachen im Kopf, und just moecht’ ich ihn in guter Laune erhalten.

WILHELM. Es war in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft. "Die Welt wird mir wieder lieb", schreibt sie, "ich hatte mich so los von ihr gemacht, wieder lieb durch Sie. Mein Herz macht mir Vorwuerfe; ich fuehle, dass ich Ihnen und mir Qualen zubereite. Vor einem halben Jahre war ich so bereit, zu sterben, und bin’s nicht mehr."

FABRICE. Eine schoene Seele!

WILHELM. Die Erde war sie nicht wert. Fabrice, ich hab’ dir schon oft gesagt, wie ich durch sie ein ganz anderer Mensch wurde. Beschreiben kann ich die Schmerzen nicht, wenn ich dann zurueck und mein vaeterliches Vermoegen von mir verschwendet sah! Ich durfte ihr meine Hand nicht anbieten, konnte ihren Zustand nicht ertraeglicher machen. Ich fuehlte zum erstenmal den Trieb, mir einen noetigen schicklichen Unterhalt zu erwerben; aus der Verdrossenheit, in der ich einen Tag nach dem andern kuemmerlich hingelebt hatte, mich herauszureissen. Ich arbeitete—aber was war das?—Ich hielt an, brachte so ein muehseliges Jahr durch; endlich kam mir ein Schein von Hoffnung; mein Weniges vermehrte sich zusehends—und sie starb—Ich konnte nicht bleiben. Du ahnest nicht, was ich litt. Ich konnte die Gegend nicht mehr sehen, wo ich mit ihr gelebt hatte, und den Boden nicht verlassen, wo sie ruhte. Sie schrieb mir kurz vor ihrem Ende—(Er nimmt einen Brief aus der Schatulle.)

FABRICE. Es ist ein herrlicher Brief, du hast ihn mir neulich gelesen.—Hoere, Wilhelm—

WILHELM. Ich kann ihn auswendig und les’ ihn immer. Wenn ich ihre Schrift sehe, das Blatt, wo ihre Hand geruht hat, mein’ ich wieder, sie sei noch da—Sie ist auch noch da!—(Man hoert ein Kind schreien.) Dass doch Marianne nicht ruhen kann! Da hat sie wieder den Jungen unseres Nachbars; mit dem treibt sie sich taeglich herum und stoert mich zur unrechten Zeit. (An der Tuer). Marianne, sei still mit dem Jungen, oder schick ihn fort, wenn er unartig ist. Wir haben zu reden. (Er steht in sich gekehrt.)

FABRICE. Du solltest diese Erinnerungen nicht so oft reizen.

WILHELM. Diese Zeilen sind’s! diese letzten! der Abschiedshauch des scheidenden Engels. (Er legt den Brief wieder zusammen.) Du hast recht, es ist suendlich. Wie selten sind wir wert, die vergangenen selig-elenden Augenblicke unseres Lebens wieder zu fuehlen!

FABRICE. Dein Schicksal geht mir immer zu Herzen. Sie hinterliess eine Tochter, erzaehltest du mir, die ihrer Mutter leider bald folgte. Wenn die nur leben geblieben waere, du haettest wenigstens etwas von ihr uebrig gehabt, etwas gehabt, woran sich deine Sorgen und dein Schmerz geheftet haetten.

WILHELM (sich lebhaft nach ihm wendend). Ihre Tochter? Es war ein holdes Bluetchen. Sie uebergab mir’s—Es ist zu viel, was das Schicksal fuer mich getan hat!—Fabrice, wenn ich dir alles sagen koennte—

FABRICE. Wenn dir’s einmal ums Herz ist.

WILHELM. Warum sollt’ ich nicht—

(Marianne mit einem Knaben.)

MARIANNE. Er will noch Gutenacht sagen, Bruder. Du musst ihm kein finster Gesicht machen, und mir auch nicht. Du sagst immer, du wolltest heiraten und moechtest gerne viel Kinder haben. Die hat man nicht immer so am Schnuerchen, dass sie nur schreien, wenn’s dich nicht stoert.

WILHELM. Wenn’s meine Kinder sind.

MARIANNE. Das mag wohl auch ein Unterschied sein.

FABRICE. Meinen Sie, Marianne?

MARIANNE. Das muss gar zu gluecklich sein! (Sie kauert sich zum Knaben und kuesst ihn.) Ich habe Christeln so lieb! Wenn er erst mein waere!—Er kann schon buchstabieren; er lernt’s bei mir.

WILHELM. Und da meinst du, deiner koennte schon lesen?

MARIANNE. Jawohl! Denn da taet’ ich mich den ganzen Tag mit nichts abgeben, als ihn aus—und anziehen, und lehren, und zu essen geben, und putzen, und allerlei sonst.

FABRICE. Und der Mann?

MARIANNE. Der taete mitspielen: der wuerd’ ihn ja wohl so liebhaben wie ich. Christel muss nach Haus und empfiehlt sich. (Sie fuehrt ihn zu Wilhelmen.) Hier, gib eine schoene Hand, eine rechte Patschhand!

FABRICE. (fuer sich). Sie ist gar zu lieb; ich muss mich erklaeren.

MARIANNE. (das Kind zu Fabricen fuehrend). Hier dem Herrn auch.

WILHELM (fuer sich). Sie wird dein sein! Du wirst—Es ist zu viel, ich verdien’s nicht.—(Laut). Marianne, schaff das Kind weg; unterhalt Herrn Fabricen bis zum Nachtessen; ich will nur ein paar Gassen auf und ab laufen; ich habe den ganzen Tag gesessen. (Marianne ab.) Unter dem Sternhimmel nur einen freien Atemzug!—Mein Herz ist so voll.—Ich bin gleich wieder da! (Ab.)

(Fabrice allein.)

FABRICE. Mach der Sache ein Ende, Fabrice. Wenn du’s nun immer laenger und laenger traegst, wird’s doch nicht reifer. Du hast’s beschlossen. Es ist gut, es ist trefflich! Du hilfst ihrem Bruder weiter, und sie—sie liebt mich nicht, wie ich sie liebe. Aber sie kann auch nicht heftig lieben, sie soll nicht heftig lieben!—Liebes Maedchen!—Sie vermutet wohl keine andere als freundschaftliche Gesinnungen in mir!—Es wird uns wohlgehen, Marianne!—Ganz erwuenscht und wie bestellt, die Gelegenheit! Ich muss mich ihr entdecken—und wenn mich ihr Herz nicht verschmaeht—von dem Herzen des Bruders bin ich sicher.

(Marianne kommt.)

FABRICE. Haben Sie den Kleinen weggeschafft?

MARIANNE. Ich haett’ ihn gern dabehalten; ich weiss nur, der Bruder hat’s nicht gern, und da unterlass’ ich’s. Manchmal erbettelt sich der kleine Dieb selbst die Erlaubnis von ihm, mein Schlafkamerad zu sein.

FABRICE. Ist er Ihnen denn nicht laestig?

MARIANNE. Ach, gar nicht. Er ist so wild den ganzen Tag, und wenn ich zu ihm ins Bette komm’, ist er so gut wie ein Laemmchen! Ein Schmeichelkaetzchen! und herzt mich, was er kann; manchmal kann ich ihn gar nicht zum Schlafen bringen.

FABRICE (halb fuer sich). Die liebe Natur.

MARIANNE. Er hat mich auch lieber als seine Mutter.

FABRICE. Sie sind ihm auch Mutter. (Marianne steht in Gedanken, Fabrice sieht sie eine Zeitlang an.) Macht Sie der Name Mutter traurig?

MARIANNE. Nicht traurig, ich denke nur so.

FABRICE. Was, suesse Marianne?

MARIANNE. Ich denke—ich denke auch nichts. Es ist mir nur manchmal so wunderbar.

FABRICE. Sollten Sie nie gewuenscht haben—?

MARIANNE. Was tun Sie fuer Fragen?

FABRICE. Fabrice wird’s doch duerfen?

MARIANNE. Gewuenscht nie, Fabrice. Und wenn mir auch einmal so ein Gedanke durch den Kopf fuhr, war er gleich wieder weg. Meinen Bruder zu verlassen, waere mir unertraeglich—unmoeglich—, alle uebrige Aussicht moechte auch noch so reizend sein.

FABRICE. Das ist doch wunderbar! Wenn Sie in einer Stadt beieinander wohnten, hiesse das ihn verlassen?

MARIANNE. O nimmermehr! Wer sollte seine Wirtschaft fuehren? wer fuer ihn sorgen?—Mit einer Magd?—oder gar heiraten?—Nein, das geht nicht!

FABRICE. Koennte er nicht mit Ihnen ziehen? Koennte Ihr Mann nicht sein Freund sein? Koennten Sie drei nicht ebenso eine glueckliche, eine gluecklichere Wirtschaft fuehren? Koennte Ihr Bruder nicht dadurch in seinen sauern Geschaeften erleichtert werden?—Was fuer ein Leben koennte das sein!

MARIANNE. Man sollt’s denken. Wenn ich’s ueberlege, ist’s wohl wahr. Und hernach ist mir’s wieder so, als wenn’s nicht anginge.

FABRICE. Ich begreife Sie nicht.

MARIANNE. Es ist nun so.—Wenn ich aufwache, horch’ ich, ob der Bruder schon auf ist; ruehrt sich nichts, hui bin ich aus dem Bette in der Kueche, mache Feuer an, dass das Wasser ueber und ueber kocht, bis die Magd aufsteht und er seinen Kaffee hat, wie er die Augen auftut.

FABRICE. Hausmuetterchen.

MARIANNE. Und dann setze ich mich hin und stricke Struempfe fuer meinen Bruder, und hab’ eine Wirtschaft, und messe sie ihm zehnmal an, ob sie auch lang genug sind, ob die Wade recht sitzt, ob der Fuss nicht zu kurz ist, dass er manchmal ungeduldig wird. Es ist mir auch nicht ums Messen, es ist mir nur, dass ich was um ihn zu tun habe, dass er mich einmal ansehen muss, wenn er ein paar Stunden geschrieben hat, und er mir nicht Hypochonder wird. Denn es tut ihm doch wohl, wenn er mich ansieht; ich seh’s ihm an den Augen ab, wenn er mir’s gleich sonst nicht will merken lassen. Ich lache manchmal heimlich, dass er tut, als wenn er ernst waere oder boese. Er tut wohl; ich peinigte ihn sonst den ganzen Tag.

FABRICE. Er ist gluecklich.

MARIANNE. Nein, ich bin’s. Wenn ich ihn nicht haette, wuesst’ ich nicht, was ich in der Welt anfangen sollte. Ich tue doch auch alles fuer mich, und mir ist, als wenn ich alles fuer ihn taete, weil ich auch bei dem, was ich fuer mich tue, immer an ihn denke.

FABRICE. Und wenn Sie nun das alles fuer einen Gatten taeten, wie ganz gluecklich wuerde er sein! Wie dankbar wuerde er sein, und welch ein haeuslich Leben wuerde das werden!

MARIANNE. Manchmal stell’ ich mir’s auch vor und kann mir ein langes Maerchen erzaehlen, wenn ich so sitze und stricke oder naehe, wie alles gehen koennte und gehen moechte. Komm’ ich aber hernach aufs Wahre zurueck, so will’s immer nicht werden.

FABRICE. Warum?

MARIANNE. Wo wollt’ ich einen Gatten finden, der zufrieden waere, wenn ich sagte: "Ich will Euch liebhaben", und muesste gleich dazusetzen: "Lieber als meinen Bruder kann ich Euch nicht haben, fuer den muss ich alles tun duerfen, wie bisher."—Ach, Sie sehen, dass das nicht geht!

FABRICE. Sie wuerden nachher einen Teil fuer den Mann tun, Sie wuerden die Liebe auf ihn uebertragen.—

MARIANNE. Da sitzt der Knoten! Ja, wenn sich Liebe herueber und hinueber zahlen liesse wie Geld, oder den Herrn alle Quartal veraenderte wie eine schlechte Dienstmagd. Bei einem Manne wuerde das alles erst werden muessen, was hier schon ist, was nie so wieder werden kann.

FABRICE. Es macht sich viel.

MARIANNE. Ich weiss nicht. Wenn er so bei Tische sitzt und den Kopf auf die Hand stemmt, niedersieht und still ist in Sorgen—ich kann halbe Stunden lang sitzen und ihn ansehen. Er ist nicht schoen, sag’ ich manchmal so zu mir selbst, und mir ist’s so wohl, wenn ich ihn ansehe.—Freilich fuehl’ ich nun wohl, dass es mit fuer mich ist, wenn er sorgt; freilich sagt mir das der erste Blick, wenn er wieder aufsieht, und das tut ein Grosses.

FABRICE. Alles, Marianne. Und ein Gatte, der fuer Sie sorgte!—

MARIANNE. Da ist noch eins; da sind eure Launen. Wilhelm hat auch seine Launen; von ihm druecken sie mich nicht, von jedem andern waeren sie mir unertraeglich. Er hat leise Launen, ich fuehl’ sie doch manchmal. Wenn er in unholden Augenblicken eine gute teilnehmende liebevolle Empfindung wegstoesst—es trifft mich! freilich nur einen Augenblick; und wenn ich auch ueber ihn knurre, so ist’s mehr, dass er meine Liebe nicht erkennt, als dass ich ihn weniger liebe.

FABRICE. Wenn sich nun aber einer faende, der es auf alles das hin wagen sollte, Ihnen seine Hand anzubieten?

MARIANNE. Er wird sich nicht finden! Und dann waere die Frage, ob ich’s mit ihm wagen duerfte.

FABRICE. Warum nicht?

MARIANNE. Er wird sich nicht finden!

FABRICE. Marianne, Sie haben ihn!

MARIANNE. Fabrice!

FABRICE. Sie sehen ihn vor sich. Soll ich eine lange Rede halten? Soll ich Ihnen hinschuetten, was mein Herz so lange bewahrt? Ich liebe Sie, das wissen Sie lange; ich biete Ihnen meine Hand an, das vermuteten Sie nicht. Nie hab’ ich ein Maedchen gesehen, das so wenig dachte, dass es Gefuehle dem, der sie sieht, erregen muss, als dich. —Marianne, es ist nicht ein feuriger, unbedachter Liebhaber, der mit Ihnen spricht; ich kenne Sie, ich habe Sie erkoren, mein Haus ist eingerichtet; wollen Sie mein sein?—Ich habe in der Liebe mancherlei Schicksale gehabt, war mehr als einmal entschlossen, mein Leben als Hagestolz zu enden. Sie haben mich nun—Widerstehen Sie nicht!—Sie kennen mich; ich bin eins mit Ihrem Bruder; Sie koennen kein reineres Band denken.—oeffnen Sie Ihr Herz!—Ein Wort, Marianne!

MARIANNE. Lieber Fabrice, lassen Sie mir Zeit, ich bin Ihnen gut.

FABRICE. Sagen Sie, dass Sie mich lieben! Ich lasse Ihrem Bruder seinen Platz; ich will Bruder Ihres Bruders sein, wir wollen vereint fuer ihn sorgen. Mein Vermoegen, zu dem seinen geschlagen, wird ihn mancher kummervollen Stunde ueberheben, er wird Mut kriegen, er wird—Marianne, ich moechte Sie nicht gern ueberreden. (Er fasste ihre Hand.)

MARIANNE. Fabrice, es ist mir nie eingefallen—In welche Verlegenheit setzen Sie mich!—

FABRICE. Nur ein Wort! Darf ich hoffen?

MARIANNE. Reden Sie mit meinem Bruder!

FABRICE (kniet). Engel! Allerliebste!

MARIANNE (einen Augenblick still). Gott! was hab’ ich gesagt! (Ab. )

(Fabrice allein.)

FABRICE. Sie ist dein!—Ich kann dem lieben kleinen Narren wohl die Taendelei mit dem Bruder erlauben; das wird sich so nach und nach herueber begeben, wenn wir einander naeher kennenlernen, und er soll nichts dabei verlieren. Es tut mir gar wohl, wieder so zu lieben und gelegentlich wieder so geliebt zu werden! Es ist doch eine Sache, woran man nie den Geschmack verliert.—Wir wollen zusammen wohnen. Ohne das haett’ ich des guten Menschen gewissenhafte Haeuslichkeit zeither schon gern ein bisschen ausgeweitet; als Schwager wird’s schon gehen. Er wird sonst ganz Hypochonder mit seinen ewigen Erinnerungen, Bedenklichkeiten, Nahrungssorgen und Geheimnissen. Es wird alles huebsch! Er soll freiere Luft atmen; das Maedchen soll einen Mann haben—das nicht wenig ist; und du kriegst noch mit Ehren eine Frau—das viel ist!

(Wilhelm kommt.)

FABRICE. Ist dein Spaziergang zu Ende?

WILHELM. Ich ging auf den Markt und die Pfarrgasse hinauf und an der Boerse zurueck. Mir ist’s eine wunderliche Empfindung, nachts durch die Stadt zu gehen. Wie von der Arbeit des Tages alles teils zur Ruh’ ist, teils darnach eilt, und man nur noch die Emsigkeit des kleinen Gewerbes in Bewegung sieht! Ich hatte meine Freude an einer alten Kaesefrau, die, mit der Brille auf der Nase, beim Stuempfchen Licht ein Stueck nach dem andern auf die Waage legte und ab—und zuschnitt, bis die Kaeuferin ihr Gewicht hatte.

FABRICE. Jeder bemerkt in seiner Art. Ich glaub’, es sind viele die Strasse gegangen, die nicht nach den Kaesemuettern und ihren Brillen geguckt haben.

WILHELM. Was man treibt, kriegt man lieb, und der Erwerb im kleinen ist mir ehrwuerdig, seit ich weiss, wie sauer ein Taler wird, wenn man ihn groschenweise verdienen soll. (Steht einige Augenblicke in sich gekehrt.) Mir ist ganz wunderbar geworden auf dem Wege. Es sind mir so viel Sachen auf einmal und durcheinander eingefallen—und das, was mich im Tiefsten meiner Seele beschaeftigt—(Er wird nachdenkend).

FABRICE (fuer sich). Es geht mir naerrisch; sobald er gegenwaertig ist, untersteh’ ich mich nicht recht, zu bekennen, dass ich Mariannen liebe.—Ich muss ihm doch erzaehlen, was vorgegangen ist.—(Laut.) Wilhelm! sag mir! du wolltest hier ausziehen? Du hast wenig Gelass und sitzest teuer. Weisst du ein ander Quartier?

WILHELM (zerstreut). Nein.

FABRICE. Ich daechte, wir koennten uns beide erleichtern. Ich habe da mein vaeterliches Haus und bewohne nur den obern Stock, und den untern koenntest du einnehmen; du verheiratest dich doch so bald nicht.—Du hast den Hof und eine kleine Niederlage fuer deine Spedition und gibst mir einen leidlichen Hauszins, so ist uns beiden geholfen.

WILHELM. Du bist gar gut. Es ist mir wahrlich auch manchmal eingefallen, wenn ich zu dir kam und so viel leer stehen sah, und ich muss mich so aengstlich behelfen.—Dann sind wieder andere Sachen—Man muss es eben sein lassen, es geht doch nicht.

FABRICE. Warum nicht?

WILHELM. Wenn ich nun heirate?

FABRICE. Dem waere zu helfen. Ledig haettest du mit deiner Schwester Platz, und mit einer Frau ging’s ebensowohl.

WILHELM (laechelnd). Und meine Schwester?

FABRICE. Die naehm’ ich allenfalls zu mir. (Wilhelm ist still.) Und auch ohne das. Lass uns ein klug Wort reden.—Ich liebe Mariannen; gib mir sie zur Frau!

WILHELM. Wie?

FABRICE. Warum nicht? Gib dein Wort! Hoere mich, Bruder! Ich liebe Mariannen! Ich hab’s lang ueberlegt: sie allein, du allein, ihr koennt mich so gluecklich machen, als ich auf der Welt noch sein kann. Gib mir sie! Gib mir sie!

WILHELM (verworren). Du weisst nicht, was du willst.

FABRICE. Ach, wie weiss ich’s! Soll ich dir alles erzaehlen, was mir fehlt und was ich haben werde, wenn sie meine Frau und du mein Schwager werden wirst?

WILHELM (aus Gedanken auffahrend, hastig). Nimmermehr! nimmermehr!

FABRICE. Was hast du?—Mir tut’s weh!—Den Abscheu!—Wenn du einen Schwager haben sollst, wie sich’s doch frueh oder spaet macht, warum mich nicht? den du so kennst, den du liebst! Wenigstens glaubt’ ich—

WILHELM. Lass mich!—ich hab’ keinen Verstand.

FABRICE. Ich muss alles sagen. Von dir allein haengt mein Schicksal ab. Ihr Herz ist mir geneigt, das musst du gemerkt haben. Sie liebt dich mehr, als sie mich liebt; ich bin’s zufrieden. Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben; ich werde in deine Rechte treten, du in meine, und wir werden alle vergnuegt sein. Ich habe noch keinen Knoten gesehen, der sich so menschlich schoen knuepfte. (Wilhelm stumm. ) Und was alles fest macht—Bester, gib du nur dein Wort, deine Einwilligung! sag ihr, dass dich’s freut, dass dich’s gluecklich macht! —Ich hab’ ihr Wort.

WILHELM. Ihr Wort?

FABRICE. Sie warf’s hin, wie einen scheidenden Blick, der mehr sagte, als alles Bleiben gesagt haette. Ihre Verlegenheit und ihre Liebe, ihr Wollen und Zittern, es war so schoen!

WILHELM. Nein! nein!

FABRICE. Ich versteh’ dich nicht. Ich fuehle, du hast keinen Widerwillen gegen mich, und bist mir so entgegen? Sei’s nicht! Sei ihrem Gluecke, sei meinem nicht hinderlich!—Und ich denke immer, du sollst mit uns gluecklich sein!—Versag meinen Wuenschen dein Wort nicht! dein freundlich Wort! (Wilhelm stumm in streitenden Qualen.) Ich begreife dich nicht—

WILHELM. Sie?—du willst sie haben?

FABRICE. Was ist das?

WILHELM. Und sie dich?

FABRICE. Sie antwortete, wie’s einem Maedchen ziemt.

WILHELM. Geh! geh!—Marianne!—Ich ahnt’ es! ich fuehlt’ es!

FABRICE. Sag mir nur—

WILHELM. Was sagen!—Das war’s, was mir auf der Seele lag diesen Abend, wie eine Wetterwolke. Es zuckt, es schlaegt!—Nimm sie!—Nimm sie!—Mein Einziges—mein Alles! (Fabrice ihn stumm ansehend.) Nimm sie!—Und dass du weisst, was du mir nimmst—(Pause. Er rafft sich zusammen.) Von Charlotten erzaehlt’ ich dir, dem Engel, der meinen Haenden entwich und mir sein Ebenbild, eine Tochter, hinterliess—und diese Tochter—ich habe dich belogen—sie ist nicht tot; diese Tochter ist Marianne!—Marianne ist nicht meine Schwester.

FABRICE. Darauf war ich nicht vorbereitet.

WILHELM. Und von dir haett’ ich das fuerchten sollen!—Warum folgt’ ich meinem Herzen nicht und verschloss dir mein Haus wie jedem in den ersten Tagen, da ich herkam? Dir allein vergoennt’ ich einen Zutritt in dies Heiligtum, und du wusstest mich durch Guete, Freundschaft, Unterstuetzung, scheinbare Kaelte gegen die Weiber einzuschlaefern. Wie ich dem Schein nach ihr Bruder war, hielt ich dein Gefuehl fuer sie fuer das wahre bruederliche, und wenn mir ja auch manchmal ein Argwohn kommen wollte, warf ich ihn weg als unedel, schrieb ihre Gutheit fuer dich auf Rechnung des Engelherzens, das eben alle Welt mit einem liebevollen Blick ansieht.—Und du!—Und sie!—

FABRICE. Ich mag nichts weiter hoeren, und zu sagen hab’ ich auch nichts. Also adieu! (Ab.)

WILHELM. Geh nur!—Du traegst sie alle mit dir weg, meine ganze Seligkeit. So weggeschnitten, weggebrochen alle Aussichten—die naechsten—auf einmal—Am Abgrunde! Und zusammengestuerzt die goldne Zauberbruecke, die mich in die Wonne der Himmel hinueberfuehren sollte— Weg! und durch ihn, den Verraeter, der so missbraucht hat die Offenheit, das Zutrauen!—O Wilhelm! Wilhelm! du bist so weit gebracht, dass du gegen den guten Menschen ungerecht sein musst?—Was hat er verbrochen?----Du liegst schwer ueber mir und bist gerecht, vergeltendes Schicksal!—Warum stehst du da? und du? Just in dem Augenblicke!—Verzeiht mir! Hab’ ich nicht gelitten dafuer?—Verzeiht! es ist lange!—Ich habe unendlich gelitten. Ich schien euch zu lieben, ich glaubte euch zu lieben; mit leichtsinnigen Gefaelligkeiten schloss ich euer Herz auf und machte euch elend!—Verzeiht und lasst mich—Soll ich so gestraft werden?—Soll ich Mariannen verlieren, die letzte meiner Hoffnungen, den Inbegriff meiner Sorgen?—Es kann nicht! es kann nicht! (Er bleibt stille.)

(Marianne kommt.)

MARIANNE (naht verlegen). Bruder!

WILHELM. Ah!

MARIANNE. Lieber Bruder, du musst mir vergeben, ich bitte dich um alles. Du bist boese, ich dacht’ es wohl. Ich habe eine Torheit begangen—es ist mir ganz wunderlich.

WILHELM (sich zusammennehmend). Was hast du, Maedchen?

MARIANNE. Ich wollte, dass ich dir’s erzaehlen koennte.—Mir geht’s so konfus im Kopf herum.—Fabrice will mich zur Frau, und ich—

WILHELM (halb bitter). Sag’s heraus, du schlaegst ein?

MARIANNE. Nein, nicht ums Leben! Nimmermehr werd’ ich ihn heiraten! ich kann ihn nicht heiraten.

WILHELM. Wie anders klingt das!

MARIANNE. Wunderlich genug. Du bist gar unhold, Bruder; ich ginge gern und wartete eine gute Stunde ab, wenn mir’s nicht gleich vom Herzen muesste. Ein fuer allemal, ich kann Fabricen nicht heiraten.

WILHELM (steht auf und nimmt sie bei der Hand.) Wie, Marianne?

MARIANNE. Er war da und redete so viel und stellte mir so allerlei vor, dass ich mir einbildete, es waere moeglich. Er drang so, und in der Unbesonnenheit sagt’ ich, er sollte mit dir reden.—Er nahm das als Jawort, und im Augenblicke fuehlt’ ich, dass es nicht werden konnte.

WILHELM. Er hat mit mir gesprochen.

MARIANNE. Ich bitte dich, was ich kann und mag, mit all der Liebe, die ich zu dir habe, bei all der Liebe, mit der du mich liebst, mach es wieder gut, bedeut ihn.

WILHELM (fuer sich). Ewiger Gott!

MARIANNE. Sei nicht boese! Er soll auch nicht boese sein. Wir wollen wieder leben wie vorher und immer so fort.—Denn nur mit dir kann ich leben, mit dir allein mag ich leben. Es liegt von jeher in meiner Seele, und dieses hat’s herausgeschlagen, gewaltsam herausgeschlagen—Ich liebe nur dich!

WILHELM. Marianne!

MARIANNE. Bester Bruder! Diese Viertelstunde ueber—ich kann dir nicht sagen, was in meinem Herzen auf—und abgerannt ist.—Es ist mir wie neulich, da es auf dem Markte brannte und erst Rauch und Dampf ueber alles zog, bis auf einmal das Feuer das Dach hob und das ganze Haus in einer Flamme stand.—Verlass mich nicht! stoss mich nicht von dir, Bruder!

WILHELM. Es kann doch nicht immer so bleiben.

MARIANNE. Das eben aengstet mich so!—Ich will dir gern versprechen, nicht zu heiraten, ich will immer fuer dich sorgen, immer, immer so fort.—Da drueben wohnen so ein paar alte Geschwister zusammen; da denk’ ich manchmal zum Spass: wenn du so alt und schrumpflich bist, wenn ihr nur zusammen seid!

WILHELM (sein Herz haltend, halb fuer sich). Wenn du das aushaeltst, bist du nie wieder zu enge.

MARIANNE. Dir ist’s nun wohl nicht so; du nimmst doch wohl eine Frau mit der Zeit, und es wuerde mir immer leid tun, wenn ich sie auch noch so gern lieben wollte—Es hat dich niemand so lieb wie ich; es kann dich niemand so lieb haben. (Wilhelm versucht zu reden.) Du bist immer so zurueckhaltend, und ich hab’s immer im Munde, dir ganz zu sagen, wie mir’s ist, und wag’s nicht. Gott sei Dank, dass mir der Zufall die Zunge loest.

WILHELM. Nichts weiter. Marianne!

MARIANNE. Du sollst mich nicht hindern, lass mich alles sagen! Dann will ich in die Kueche gehen und tagelang an meiner Arbeit sitzen, nur manchmal dich ansehen, als wollt’ ich sagen: du weisst’s!—(Wilhelm stumm in dem Umfange seiner Freuden.) Du konntest es lange wissen, du weisst’s auch, seit dem Tod unserer Mutter, wie ich aufkam aus der Kindheit und immer mit dir war.—Sieh, ich fuehle mehr Vergnuegen, bei dir zu sein, als Dank fuer deine mehr als bruederliche Sorgfalt. Und nach und nach nahmst du so mein ganzes Herz, meinen ganzen Kopf ein, dass jetzt noch etwas anders Muehe hat, ein Plaetzchen drin zu gewinnen. Ich weiss wohl noch, dass du manchmal lachtest, wenn ich Romanen las; es geschah einmal mit der Julie Mandeville, und ich fragte, ob der Heinrich, oder wie er heisst, nicht ausgesehen habe wie du?—Du lachtest—das gefiel mir nicht. Da schwieg ich ein andermal still. Mir war’s aber ganz ernsthaft; denn was die liebsten, die besten Menschen waren, die sahen bei mir alle aus wie du. Dich sah ich in den grossen Gaerten spazieren, und reiten, und reisen, und sich duellieren—(Sie lacht fuer sich.)

WILHELM. Wie ist dir?

MARIANNE. Dass ich’s ebensomehr auch gestehe: wenn eine Dame recht huebsch war und recht gut und recht geliebt—und recht verliebt—das war ich immer selbst.—Nur zuletzt, wenn’s an die Entwicklung kam und sie sich nach allen Hindernissen noch heirateten—Ich bin doch auch gar ein treuherziges, gutes, geschwaetziges Ding!

WILHELM. Fahr fort! (Weggewendet.) Ich muss den Freudenkelch austrinken. Erhalte mich bei Sinnen, Gott im Himmel!

MARIANNE. Unter allem konnt’ ich am wenigsten leiden, wenn sich ein paar Leute liebhaben, und endlich kommt heraus, dass sie verwandt sind, oder Geschwister sind—Die Miss Fanny haett’ ich verbrennen koennen! —Ich habe so viel geweint! Es ist so ein gar erbaermlich Schicksal!

(Sie wendet sich und weint bitterlich.)

WILHELM (auffahrend an ihrem Hals). Marianne! meine Marianne!

MARIANNE. Wilhelm! nein! nein! Ewig lass’ ich dich nicht! Du bist mein!—Ich halte dich! ich kann dich nicht lassen!

(Fabrice tritt auf.)

MARIANNE. Ha, Fabrice, Sie kommen zur rechten Zeit! Mein Herz ist offen und stark, dass ich’s sagen kann. Ich habe Ihnen nichts zugesagt, Sei’n Sie unser Freund! heiraten werd’ ich Sie nie.

FABRICE (kalt und bitter). Ich dacht’ es, Wilhelm, wenn du dein ganzes Gewicht auf die Schale legtest, musst’ ich zu leicht erfunden werden. Ich komme zurueck, dass ich mir vom Herzen schaffe, was doch herunter muss. Ich gebe alle Ansprueche auf und sehe, die Sachen haben sich schon gemacht; mir ist wenigstens lieb, dass ich unschuldige Gelegenheit dazu gegeben habe.

WILHELM. Laestre nicht in dem Augenblick und raub dir nicht ein Gefuehl, um das du vergebens in die weite Welt wallfahrtetest! Siehe hier das Geschoepf—sie ist ganz mein—und sie weiss nicht—

FABRICE (halb spottend). Sie weiss nicht?

MARIANNE. Was weiss ich nicht?

WILHELM. Hier luegen, Fabrice—?

FABRICE (getroffen). Sie weiss nicht?

WILHELM. Ich sag’s.

FABRICE. Behaltet einander, ihr seid einander wert!

MARIANNE. Was ist das?

WILHELM (ihr um den Hals fallend). Du bist mein, Marianne!

MARIANNE. Gott! was ist das?—Darf ich dir diesen Kuss zurueckgeben?— Welch ein Kuss war das, Bruder?

WILHELM. Nicht des zurueckhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der Kuss eines ewig einzig gluecklichen Liebhabers.—(Zu ihren Fuessen.) Marianne, du bist nicht meine Schwester! Charlotte war deine Mutter, nicht meine.

MARIANNE. Du! du!

WILHELM. Dein Geliebter!—von dem Augenblicke an dein Gatte, wenn du ihn nicht verschmaehst.

MARIANNE. Sag mir, wie war’s moeglich?—

FABRICE. Geniesst, was euch Gott selbst nur einmal geben kann! Nimm es an, Marianne, und frag nicht.—Ihr werdet noch Zeit genug finden, euch zu erklaeren.

MARIANNE (ihn ansehend). Nein, es ist nicht moeglich!

WILHELM. Meine Geliebte! meine Gattin!

MARIANNE (an seinem Hals). Wilhelm, es ist nicht moeglich!