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Briefe Aus Der Schweiz
Contents:
Muenster, Den 3. October.
Sonntag Abends.
Von Basel erhalten Sie ein Paket, das die Geschichte unsrer bisherigen Reise enthaelt, indessen wir unsern Zug durch die Schweiz nun ernstlich fortsetzen.
Auf dem Wege nach Biel ritten wir das schoene Birsch-Thal herauf und kamen endlich an den engen Pass der hierher fuehrt.
Durch den Ruecken einer hohen und breiten Gebirgkette hat die Birsch, ein maessiger Fluss, sich einen Weg von Uralters gesucht. Das Beduerfniss mag nachher durch ihre Schluchten aengstlich nachgeklettert sein. Die Roemer erweiterten schon den Weg, und nun ist er sehr bequem durchgefuehrt. Das ueber Felsstuecke rauschende Wasser und der Weg gehen neben einander hin und machen an den meisten Orten die ganze Breite des Passes, der auf beiden Seiten von Felsen beschlossen ist, die ein gemaechlich aufgehobenes Auge fassen kann. Hinterwaerts heben Gebirge sanft ihre Ruecken, deren Gipfel uns vom Nebel bedeckt waren. Bald steigen an einander haengende Waende senkrecht auf, bald streichen gewaltige Lagen schief nach dem Fluss und dem Weg ein, breite Massen sind auf einander gelegt, und gleich daneben stehen scharfe Klippen abgesetzt. Grosse Kluefte spalten sich aufwaerts, und Platten von Mauerstaerke haben sich von dem uebrigen Gesteine losgetrennt. Einzelne Felsstuecke sind herunter gestuerzt, andere haengen noch ueber und lassen nach ihrer Lage fuerchten, dass sie dereinst gleichfalls herein kommen werden. Bald rund, bald spitz, bald bewachsen, bald nackt, sind die Firsten der Felsen, wo oft noch oben drueber ein einzelner Kopf kahl und kuehn herueber sieht, und an Waenden und in der Tiefe schmiegen sich ausgewitterte Kluefte hinein.
Mir machte der Zug durch diese Enge eine grosse ruhige Empfindung. Das Erhabene gibt der Seele die schoene Ruhe, sie wird ganz dadurch ausgefuellt, fuehlt sich so gross als sie sein kann. Wie herrlich ist ein solches reines Gefuehl, wenn es bis gegen den Rand steigt ohne ueberzulaufen. Mein Auge und meine Seele konnten die Gegenstaende fassen, und da ich rein war, diese Empfindung nirgends falsch widerstiess, so wirkten sie was sie sollten. Vergleicht man solch ein Gefuehl mit jenem, wenn wir uns muehselig im Kleinen umtreiben, alles aufbieten, diesem so viel als moeglich zu borgen und aufzuflicken, und unserm Geist durch seine eigne Creatur Freude und Futter zu bereiten; so sieht man erst, wie ein armseliger Behelf es ist.
Ein junger Mann, den wir von Basel mitnahmen, sagte: es sei ihm lange nicht wie das erstemal, und gab der Neuheit die Ehre. Ich moechte aber sagen: wenn wir einen solchen Gegenstand zum erstenmal erblicken, so weitet sich die ungewohnte Seele erst aus, und es macht diess ein schmerzlich Vergnuegen, eine UEberfuelle, die die Seele bewegt und uns wolluestige Thraenen ablockt. Durch diese Operation wird die Seele in sich groesser, ohne es zu wissen, und ist jener ersten Empfindung nicht mehr faehig. Der Mensch glaubt verloren zu haben, er hat aber gewonnen. Was er an Wollust verliert, gewinnt er an innerm Wachsthum. Haette mich nur das Schicksal in irgend einer grossen Gegend heissen wohnen, ich wollte mit jedem Morgen Nahrung der Grossheit aus ihr saugen, wie aus einem lieblichen Thal Geduld und Stille. Am Ende der Schlucht stieg ich ab und kehrte einen Theil allein zurueck. Ich entwickelte mir noch ein tiefes Gefuehl, durch welches das Vergnuegen auf einen hohen Grad fuer den aufmerksamen Geist vermehrt wird. Man ahnet im Dunkeln die Entstehung und das Leben dieser seltsamen Gestalten. Es mag geschehen sein wie und wann es wolle, so haben sich diese Massen, nach der Schwere und AEhnlichkeit ihrer Theile, gross und einfach zusammen gesetzt. Was fuer Revolutionen sie nachher bewegt, getrennt, gespalten haben, so sind auch diese doch nur einzelne Erschuetterungen gewesen, und selbst der Gedanke einer so ungeheuren Bewegung gibt ein hohes Gefuehl von ewiger Festigkeit. Die Zeit hat auch, gebunden an die ewigen Gesetze, bald mehr bald weniger auf sie gewirkt.
Sie scheinen innerlich von gelblicher Farbe zu sein; allein das Wetter und die Luft veraendern die Oberflaeche in Graublau, dass nur hier und da in Streifen und in frischen Spalten die erste Farbe sichtbar ist.
Langsam verwittert der Stein selbst und rundet sich an den Ecken ab, weichere Flecken werden weggezehrt, und so gibt’s gar zierlich ausgeschweifte Hoehlen und Loecher, die, wann sie mit scharfen Kanten und Spitzen zusammen treffen, sich seltsam zeichnen. Die Vegetation behauptet ihr Recht; auf jedem Vorsprung, Flaeche und Spalt fassen Fichten Wurzel, Moos und Kraeuter saeumen die Felsen. Man fuehlt tief, hier ist nichts Willkuerliches, hier wirkt ein alles langsam bewegendes ewiges Gesetz, und nur von Menschenhand ist der bequeme Weg, ueber den man durch diese seltsamen Gegenden durchschleicht.
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Chicago: Johann Wolfgang von Goethe, "Muenster, Den 3. October.," Briefe Aus Der Schweiz in Briefe Aus Der Schweiz Original Sources, accessed November 23, 2024, http://originalsources.com/Document.aspx?DocID=6GJ9AB9A2NUQ6P5.
MLA: Goethe, Johann Wolfgang von. "Muenster, Den 3. October." Briefe Aus Der Schweiz, in Briefe Aus Der Schweiz, Original Sources. 23 Nov. 2024. http://originalsources.com/Document.aspx?DocID=6GJ9AB9A2NUQ6P5.
Harvard: Goethe, JW, 'Muenster, Den 3. October.' in Briefe Aus Der Schweiz. cited in , Briefe Aus Der Schweiz. Original Sources, retrieved 23 November 2024, from http://originalsources.com/Document.aspx?DocID=6GJ9AB9A2NUQ6P5.
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